Damals habe ich meiner demenzkranken Mutter eine Geschichte über einen Schmetterling geschrieben, die ich „Große Freiheit“ betitelte und ihr öfter vorlas. So musste sie nicht nur meine Hörbücher in Dauerschleife genießen oder die vielen anderen Geschichten, die ihr meine Schwester vorlas.
Ich habe die Kurzgeschichte noch nie veröffentlicht. Heute ist dafür ein guter Tag!
„Weisheit ist wie ein Schmetterling: Selten, aber kostbar.“
Große Freiheit
Es war einmal ein kleiner Schmetterling, der in einem engen Kokon gefangen war. Er träumte davon, die Welt zu sehen und die Sonne auf seinen Flügeln zu spüren. Er hatte von der großen Freiheit gehört, die nur die Schmetterlinge kannten, die aus ihren Kokons geschlüpft waren. Er wollte auch dazugehören.
Eines Tages spürte er einen Drang in sich, sich zu bewegen. Er fühlte, wie sein Kokon anfing zu reißen. Er war aufgeregt und ängstlich zugleich. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Er zog und zerrte an dem seidenen Faden, bis er ein kleines Loch sah. Er schob seinen Kopf hindurch und erblickte zum ersten Mal das Licht. Er war überwältigt von den Farben und Formen, die er sah. Er sah grüne Blätter und bunte Blumen. Er sah andere Schmetterlinge, die um ihn herumflatterten. Er sah den blauen Himmel und die weißen Wolken. Er wollte alles erkunden und erleben.
Er schlüpfte ganz aus seinem Kokon und breitete seine kleinen Flügel aus. Er spürte einen Windstoß, der ihn sanft anhob. Er flog los und fühlte sich frei wie nie zuvor. Er flog von Blume zu Blume und trank ihren süßen Nektar. Er spielte mit den anderen bunten Schmetterlingen und lernte ihre Namen. Er genoss jeden Moment seines Lebens.
Er war glücklich und dankbar für die große Freiheit, die er gefunden hatte. Er wusste, dass er seinen Traum verwirklicht hatte. Er wusste aber auch, dass seine Zeit begrenzt war und dass er eines Tages sterben würde. Aber er hatte keine Angst davor. Denn er hatte gelebt.
© Jando, Reineke & Partner, Hamburg 2023